Gut zu wissen
Sind digitale Spiele wirklich so schlecht wie ihr Ruf?
Prof. Dr. Daniel Süss ist der ultimative Experte in der Schweiz für digitale Medien und Kinder. Er ist Leiter des Psychologischen Instituts der ZHAW Angewandte Psychologie, Co-Leiter der Fachgruppe Medienpsychologie sowie Professor für Medienpsychologie. Er arbeitet unter anderem an Projekten mit Jugend & Medien und Pro Juventute zusammen. Im Interview verratet Prof. Dr. Süss, warum digitale Spiele nicht viel anders sind als das, was Eltern bereits schon selbst aus ihrer Kindheit kennen und räumt mit Vorurteilen auf. Erfahren Sie es gleich selbst

Bild: NIK, 2019
Interview by Ines Hayle
am 01. Dezember 2020
Ines: Ich danke Ihnen, dass Sie sich die Zeit nehmen, um Ihre Expertise zu den digitalen Spielen für Kinder und Jugendliche zu teilen. Digitale Spiele, insbesondere für Kinder, haben einen grauenhaften Ruf bei den Eltern in der Schweiz. Sind digitales Spiele wirklich so schlecht wie ihr Ruf?
Prof. Dr. Süss: In unseren Studien sieht man, wenn man Eltern fragt, von welchen Medien sie positive oder negative Effekte für ihr Kind erwarten, dass Games ganz am Schluss kommen bezüglich positiver Erwartungen. Bei Büchern denken Eltern, sie sind das Wertvollste, wovon Kinder profitieren. Games sind ganz am Schluss. Das heisst, das Image von Games ist, das es Zeitverschwendung ist oder noch allenfalls gefährlich. Es führt zur Verhaltenssucht oder dazu, dass Kinder die Schule vernachlässigen und so weiter. Oder allenfalls, dass sie mit Leuten in Kontakt kommen, die irgendwie unlautere Absichten haben. All diese Themen von Belästigungen kommen dann auf, wenn’s um Online Games geht. Da ist es sicher wichtig, dass man einen anderen Ansatz finden kann. Ich habe Ihnen ja von dieser österreichischen Plattform erzählt. Und wenn Sie dort angeschaut haben, dann ist das auch der Ansatz, dass man sagt, was für Fähigkeiten muss ein Kind mitbringen, dass es dieses Spiel nutzen und geniessen kann und etwas davon haben kann. Das ist ein Anforderungsprofil, welches das Kind schon mitbringen muss. Auf der anderen Seite, was kann ein Spiel fördern, welche Kompetenzen können im Spiel gefördert werden, wenn man es spielt. Also dann ist sicher noch ein weiterer Punkt, wenn man Eltern fragt, über was machen Sie sich Sorgen bei Medienwirkungen. Dann sind es auch bestimmte Inhalte. Wie zum Bespiel Gewaltdarstellungen, sexistische Darstellungen oder eben auch dass es Kommerzialisierung ist, In-App-Käufe oder In-Game-Käufe, die man machen muss. Oder Werbebotschaften, die in Games platziert werden. Die Kommerzialisierung und Beeinflussung ist eine weitere Sorge. Aber auf der anderen Seite kann man sagen, Gamification von Lernsettings wo Eltern schon auch bewusst ist, dass man Spiele einsetzen kann, um in der Schule und anderen Kontext etwas zu lernen. Und das ist die Frage. Kann man ein Spiel nur begründbar machen, da lernt man aber viel und es ist wertvoll. Oder ist es auch dann eine Möglichkeit, wenn man den Eltern zeigt, es ist eine gute Form von Unterhaltung. Aber auch eine, die kindgerecht ist und keine negative Effekte hat. Das ist wie eine andere Schiene.
Ines: Eltern würden sich wünschen, dass Kinder beim digitalen Spielen etwas lernen können und es förderlich für ihre Entwicklung ist. Ist das überhaupt möglich?
Prof. Dr. Süss: Ja! Ich würde es in einen Kontext setzen, wie wenn Eltern oder Göttis ihren Kindern etwas zu Weihnachten schenken. Dann überlegen sie, ob es ein wertvolles Spiel ist im Sinn von dass das Kind etwas fürs Leben lernt oder etwas was sich das Kind von Herzen wünscht und Freude daran hat. Dann ist es ein Abwägen. Das eine ist, lernen sie etwas dazu und andererseits, richtet es keinen Schaden an. Man würde es auch positiv bewerten, wenn das Kind total begeistert ist von etwas und es keinen Schaden auslöst. Natürlich ist es noch besser, es lernt noch etwas dabei. Ein Spiel muss nicht nur begründet werden, dass es etwas Wertvolles ist, quasi einen Lerninhalt vermittelt, sondern es kann auch einfach Spass machen. Wenn Eltern mit ihren Kindern Uno spielen, das Kartenspiel, dann fragen sie auch nicht primär, was lernt jetzt mein Kind dabei, sondern ist es eine kindergerechte Unterhaltung.
'Aber das Wesen von Spiel und vom Spielen ist die Zweckfreiheit. Es ist ein Spiel und es macht Freude und es ist Lebensqualität. Und man kann sich natürlich kindgerecht als kompetent erleben, indem man diese Fähigkeiten, die man hat, einsetzen kann und damit im Spiel erfolgreich sein kann. Das ist zumindest auch wertvoll für das Selbstvertrauen für das Kind. Das Kind sieht, ich kann etwas, ich kann etwas erreichen, ich kann etwas gestalten. Das sind ja auch wichtige Aspekte.' – Prof. Dr. Daniel Süss
Ines: Viele Eltern denken, dass es sinnvoller ist, wenn ihre Kinder mit Haushaltsgegenständen anstatt "nur" mit einer Konsole spielen. Wie stehen Sie dazu?
Prof. Dr. Süss: Ja, natürlich. Es gibt bis zur Extrempositition der alternativen Kindergärten überhaupt keine Spielsachen oder man geht in den Wald. Man spielt nur mit den Objekten, die vorhanden sind. Das ist schon auch möglich. Aber andererseits kann man sagen, dass wir in einer Kultur leben und diese Kultur hat auch Objekte und Tools geschaffen, mit denen wir etwas erleben können. Das ist eine Grundfrage. Ist das so künstlich? Wenn man zum Beispiel sagen würde, die Kinder erhalten ein Kostüm und mit diesem Kostüm können sie ein Theater inszenieren. Die Eltern sagen dann, das ist ja toll. Aber wenn es in einer virtuellen Welt ist, dann hat man das Gefühl, es ist nicht echt. Das ist kein echtes Verhalten. Man denkt, das Kind sitzt in seinem Zimmer und taucht in eine Fantasiewelt und eine virtuelle Welt ein. Da kann man dagegen argumentieren, dass wenn ein Kind in einem Buch in eine Fantasiewelt eintaucht, dann finden das Eltern toll, obwohl da genau so eine Fantasiewelt, eine vorgestellte imaginierte Welt ist.
Ines: Gibt es eigentlich Geschlechterunterschiede bei den Präferenzen für digitale Spiele?
Prof. Dr. Süss: Ja, das ist schon so. Wenn man anschaut, was den Mädchen gefällt, dann sind es Simulationen wie Sims, die den grossen Erfolg ausmachen. Wir haben auch einmal Kinder und Jugendliche befragt, was ihnen beim Gamen besonders gut gefällt. Dann haben Jungs gesagt, der Wettbewerb, das Kämpfen und sich zu positionieren. Mädchen haben an erster Stelle gesagt, abtauchen in eine andere Welt. In so eine Fantasiewelt abtauchen, dort explorieren und spannende Sachen erleben können. Das ist für Mädchen oft viel attraktiver als der Wettbewerb. Das sind unterschiedliche Welten, aber das sind sie in allen anderen Alltagsbereichen. Es wäre erstaunlich, wenn das so anders wäre als sonst in unserem Alltag.
Ines: Wie können Eltern für die positiven Potenzialen des digitalen Spielens sensibilisiert werden?
'Es soll ihnen aufgezeigt werden, dass eigentlich die gleichen Motive und das Vergnügen heutzutage auch in Games anzutreffen ist oder auch dort erlebt werden können.' – Prof. Dr. Daniel Süss
Prof. Dr. Süss: Eine Mutter, die nie einen Bezug zu Video Games hatte, sollte einen Bogen zu den Spielen schlagen, die sie gerne gespielt hat als Mädchen, die auch das Spielerische hatten. Irgendein Rollenspiel, welches sie ganz lange und ausgiebig gemacht oder eine Fernsehserie nachgespielt hat. Also ihnen aufzeigen, das es nicht etwas völlig Neues oder Anderes ist, was sie erlebt haben, einfach auf einem Medium, in einem anderen Raum.
Ines: Wie können Eltern wissen, welches das passende digitale Spiel für ihr Kind ist?
'Eltern, die ihr Kind im Sport unterstützen wollen, müssen sorgfältig schauen, was kann mein Kind, was macht es gerne.' – Prof. Dr. Daniel Süss
Prof. Dr. Süss: Wenn es darum geht, welche Sportart das Kind belegen soll, ob es ins Fechten oder Rudern geht, dann sind es genau diese Abwägungen. Natürlich kann man sagen, man kann es nach Versuch und Irrtum machen. Das Kind meldet sich schon, wenn es ihm nicht gefällt. Genauso wäre es bei einem Game, wo man findet, das passt für das Kind und ich schenke es ihm. Wenn es ihr oder ihm zu langweilig ist, dann klappt es aber nicht.
Ines: Vielen Dank für das aufschlussreiche Gespräch! Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag!
Prof. Dr. Süss: Vielen Dank. Ihnen auch! Ade!
Ines: Ade!

Prof. Dr. Daniel Süss ist Leiter des
Instituts der ZHAW Angewandte Psychologie Zürich,
Co-Leiter der Fachgruppe Medienpsychologie
sowie Professor für Medienpsychologie
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